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Singen

“Danijar begann zu singen. Wieder fing er zaghaft an, doch allmählich gewann seine Stimme an Kraft, erfüllte die ganze Schlucht und hallte in den fernen Felsen wider.

Am meisten überraschte mich die Leidenschaft und die Glut in seiner Melodie. Es war etwas ganz Besonderes daran, aber was, das wußte ich nicht zu sagen; und ich weiß auch heute noch nicht, ob es Danijars Stimme war oder etwas Größeres, das unmittelbar aus der Seele des Menschen kommt, etwas, das bei anderen die gleiche Erregung und die verborgensten Gedanken zu erwecken vermag.“

Tschingis Aitmatow, Dshamilja, Bibliothek Suhrkamp, 1984, S. 80 f)

I am Rose – my eyes are blue.

I am Rose – and who are you?

I am Rose – and when I sing

I am Rose – like anything.

Gertrude Stein

Singen ist eine Lebensäußerung, bei der Leib, Seele und Geist zusammenwirken – ein Akt umfassender Selbstvergewisserung.

Denn selten erleben wir uns so vollständig wie beim Singen – als atmender, tönender Körper, in dem die Seele alle ihre Facetten von tiefster Trauer bis zu höchster Freude ausspielen kann, beflügelt von wacher Geistesgegenwart.

Im Chorgesang findet sich die einzelne Stimme zunächst in ihrer eigenen Stimmgruppe verstärkt. Da Sopran, Alt, Tenor und Bass miteinander den gesamten Umfang der menschlichen Stimme ausloten, kann sich die Einzelstimme in der Chorgemeinschaft in ein großes Ganzes einfügen – und weit über sich hinaus in ein Allgemeinmenschliches wachsen.

Beim Sologesang ganz ich selbst sein – und im Chor Teil einer Gemeinschaft werden – darin mögen die Ursachen für das tiefe Glück liegen, das wir beim Singen erleben können.